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  • AutorenbildNicola

Handarbeit

Aktualisiert: 23. Feb. 2022

Mein Blog beginnt mit drei Texten. In ihrer Reihenfolge entsprechen diese in etwa dem Verlauf meiner Erkrankung. Auch meine sechs Jahrzehnte Leben haben recht viel Raum eingenommen. Das Thema „Handarbeit“ ist lediglich nur gestreift worden.

Daher sei ihm im folgenden Text Raum gegeben.



Räumung


Die „Geschichte“ lasse ich im Mai 2017 beginnen. Mit Jonathan und einem Kumpel von ihm fahre ich von Bonn nach Duisburg, um Dinge aus dem Haus zu holen, in dem ich aufgewachsen bin und das meine Mutter zeitlebens bewohnte. Ich sitze hinter dem Steuer unseres Polos und Jonathan fährt einen geliehenen Sprinter. Im Januar ist meine Mutter verstorben. Mein älterer Bruder, mein ältester Neffe und ich sind die Erben, mein jüngerer Bruder seit 2001 der Hausbesitzer.


Elternhaus


Mein Großvater hatte das Haus 1928 mit seinem Bruder als Doppelhaus gebaut. In der rechten Hälfte lebten meine Großeltern und meine Eltern, meine beiden Brüder und ich, in der linken - lange vor meiner Zeit - mein Großonkel mit Frau und seinen drei Kindern. Da dieser Teil der Familie mir nie begegnet und daher nicht relevant ist, wird es nur um die rechte Haushälfte gehen.

Meine Mutter bewohnte ihr Elternhaus die letzten sechzehn Jahre unter Niesbrauchrecht.

1956 kam ihr Ehemann, unser Vater, dazu, 1957,1959 und 1963 wir drei Kinder. Meine Großeltern mütterlicherseits lebten im Erdgeschoss, wir auf der ersten Etage und im ausgebauten Dachgeschoss.

Dem Umstand, mit Oma und Opa zusammenzuleben ist letztlich auch zu verdanken, dass ich häkeln und stricken von meiner Großmutter lernte. Meine Handarbeitslaufbahn nahm in diesem Haus ihren Anfang.


Erbschaft


Durch den Tod meiner Mutter entstand folgende erbrechtliche Situation: Uns Erben gehörte der gesamte Hausrat und alle Möbel, dem Hausbesitzer die besagte Immobilie. Wir Erben waren verpflichtet, das Haus auf eigene Kosten leerzuräumen.

In der Absicht, Wertvolles und Brauchbares an mich zu nehmen, fuhr ich also mit den beiden starken Jungs dorthin.

Einiges sollte noch im Haus verkauft werden, daher hatte ich mich mit einem Antiquitätenhändler vor Ort verabredet. Für einen Appel und ein Ei nahm er Geschirr, Silber, zwei Teppiche und etwa ein halbes Dutzend Kupferstiche mit.

Wer schon die anderen Texte des Blogs kennt, den wird es nicht überraschen, dass der Hausbesitzer, der vier Monate brauchte, bis er uns den Hausschlüssel endlich aushändigte, sich schon vorher am Familienschmuck und anderen wertvollen Dingen nach Herzenslust bedient hatte, obwohl ihm ja, weil er das Erbe zugunsten seines älteren Sohnes aus seiner ersten Ehe ausgeschlagen hatte, nichts gehörte. Genau genommen handelte es sich um Diebstahl – leider nicht nachweisbar.

Der Hausbesitzer ist auch der Einzige, der weiß, was mit den Geschäftskonten geschehen ist. Verkauf und davor die Vermietungen der anderen Immobilien brachte eine Summe ein, die es schwer vorstellbar sein lässt, dass die Erblasserin das Geld seit dem Tode ihres Mannes knapp vier Jahre davor, vollständig verbraucht hatte.

Mein jüngerer Bruder hatte über die Finanzen eine Generalvollmacht – eine Lizenz, sich die eigenen Taschen zu füllen. Für uns Erben blieb zwar ein ansehnlicher Betrag übrig. Wäre es aber mit rechten Dingen zugegangen, hätten wir Erben ein Vielfaches mehr bekommen.


Der Sessel


Ich komme auf ein Erbstück zu sprechen, dessen Wert sich erst ein gutes Jahr später erweist und das mit dem Fortschreiten meiner Erkrankung immer wichtiger für mich wird.

Wenige Wochen vor seinem Tod wurde für meinen Vater ein elektrischer Sessel angeschafft.

Am Ende seines Lebens war er genauso immobil wie ich jetzt schon. Normale Stühle sind für die meisten immobilen Menschen zu niedrig, um sich selbständig hinzusetzen und ohne Hilfe wieder aufzustehen, der Rollstuhl auf Dauer zu unbequem.

Auch in meinen gesunden Tagen liebt ich es, meine Beine hochzulegen. Bevor der Sessel meines Vaters in unser Wohnzimmer kam, pflegte ich auf dem Sofa zu sitzen und für meine Füße war der Couchtisch da.

Das ist aber kein Vergleich zu dem Komfort, den ein Sessel mit Fernbedienung bietet. Ich kann ihn beliebig einstellen, so, wie es meinen Bedürfnissen entspricht.

Neben meinem E-Rollstuhl ist er die einzige für mich brauchbare Sitzgelegenheit. Inzwischen bringe ich mehrere Stunden auf ihm zu, meist strickend oder häkelnd.

Andere Menschen haben einen Hobbyraum. Ort meines Hobbys ist der Sessel. Unser zweistöckiger Couchtisch dient als Ablage für die aktuell bearbeiteten Handarbeitsprojekte.


Hinzu kommt noch eine Kommode mit Nadeln aller Art und kiloweise Wolle. Mal sehen, wie lange ich mein selbst auferlegtes Woll-Kauf-Fasten durchhalte. Mein ehrgeiziges Ziel ist es, die Kommode leer zu arbeiten.

An einem Wollgeschäft vorbeizugehen, ohne nicht wenigstens ein Knäuel Sockenwolle zu kaufen, fordert mir sehr viel Standfestigkeit ab.

Da mir schnell langweilig wird, gibt es bei mir etliche Arbeiten, die auf Vollendung warten. Wie alles in meinem Leben, geht die Nadelarbeit immer langsamer voran.


Unschlagbare Argumente


Es gibt gute Gründe, am Ball, bzw. bei den Nadeln zu bleiben:

  • Handarbeit ersetzt die Ergotherapie. Kraft und Geschicklichkeit haben deutlich nachgelassen. Die wiederkehrenden monotonen Bewegungsabläufe beim Häkeln und Stricken geben mir das gute Gefühl, mit meinen Händen noch produktiv tätig sein zu können.

  • Wegen meiner schnellen Ermüdbarkeit ist das Lesen häufig zu anstrengend. Wenn ich das Buch für ein „Power-Napping“ schon nach kurzer Lektüre beiseitelege, ist das Gelesene meist vergessen. Eine Handarbeit kann beliebig oft unterbrochen und wieder aufgenommen werden.

  • Am sozialen Leben teilzunehmen, kostet immer mehr Kraft. Irgendwann ist es anstrengend. Mit meinen Beiträgen hinke ich thematisch hinterher, mein Hirn ist zu langsam. Das Sprechen ist mühsam geworden. Wenn ich nicht mehr mithalten kann, greife ich zu den Nadeln. Das hält wach und aufmerksam.

  • Der Kreis derer, die zu den Opfern meines Hobbys werden, vergrößert sich stetig. Natürlich fühle ich bei den mit Nadel und Faden zu Beglückenden vor, damit ich nicht für den Altkleidersack arbeite. Inzwischen habe ich einen guten Riecher dafür, welches Projekt zu wem passt. Strümpfe bereiten die größte Freude.



  • Ich fühle mich beim Stricken dem Menschen besonders verbunden, dem die Arbeit gilt. Beispielsweise ist es meine Art, ein Enkelkind schon vor seiner Geburt willkommen zu heißen.

  • Die meisten Ideen kommen aus dem Internet. Diese Tatsache ist ein herrlicher Grund, viel Zeit mit dem Handy zu verbringen. Wichtiger ist aber der Lerneffekt. Unbekannte Muster, die mir gefallen und die ich mir zutraue, werden ausprobiert. Ich lerne also stetig dazu.

  • Eine Wollmarke warb im Internet mit dem Slogan „Strick dich glücklich“. Natürlich sorgt ein erfolgreich fertiggestelltes Teil für Glücksgefühle. Aber Nadelarbeiten an sich bewirkt schon Entspannung und Wohlbefinden. Es ist mein Yoga. Es ist meine Art zu meditieren. Eine andere Alternative habe ich nicht. Auf einer Matte zu liegen und zu entspannen war immer schon die Hölle für mich. Mein Herz begann zu rasen und über den ganzen Körper breitete sich Juckreiz aus.

  • Handarbeiten ist oft meine Alternative zu Online-Bestellungen. Ohne Unterstützung kann ich keine Einkäufe in Geschäften tätigen. Wenn man im Internet Woll-Schnäppchen auf Online-Outlet-Portalen entdeckt, spart man richtig Geld. Als Studentin war ich knapp bei Kasse. Meine Eltern betrachteten ihre Unterhaltspflichten als Werk der Barmherzigkeit. Jede/r Bafög-Empfänger/in hatte mehr. Brauchte ich Geschenke, habe ich das Einkaufen durch Nadelarbeit ersetzt. Vieles kostete nichts, weil ich Reste verwerten konnte.

Dank an meine Oma


Ich werde meiner Oma dankbar sein, solange ich lebe.

Dabei hat sie, genau wie ich, aus der Not eine Tugend gemacht. Sie hatte Rheuma und Blutkrebs. Meist hütete sie das Haus, verbrachte ihr Leben in der Küche.

Besonders mit meiner Erziehung und Aufzucht war meine Mutter überfordert. Oma holte mich in ihre Küche. Aber sie musste mich als Kind beschäftigen. Bewegungsspiele waren nicht drin. Also griff sie zu den Nadeln – erst zur Häkelnadel, dann zu den Stricknadeln. Später lernte ich noch zu sticken.

Danke, geliebte Oma! Was du mir beigebracht hat, bewahrt mich bis heute vor Leere und Trübsinn.


Gestricktes für die Enkelkinder


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