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  • stanzlelisabeth

Meine Großeltern väterlicherseits: Teil 2

Nachdem es in Teil 1 um die Geschichte von Richard Löser, mein Großvater väterlicherseits, ging, widme ich diesen Text meiner Großmutter Maria Löser. Mein Wissen über sie ist lücken- und anekdotenhaft. Aber erfahrungsgemäß kann das Nicht-Erzählte aufschlussreich sein. Meine Erinnerungen sind ambivalent, dankbar, bitter, freundlich – es ist alles dabei. In den Versatzstücken dieser vier Lebensgeschichten habe ich Lebensthemen entdeckt, die vererbt und solche, die beendet worden sind.


Triggerwarnung: Antisemitismus, sexualisierte Gewalt



Maria Löser, geb. Wunsch (1899-1980)

Persönliche Anmerkung vorweg


Über kein anderes Familienmitglied wurde so häufig „abgelästert“ wie über die Mutter meines Vaters. Das war verständlich, denn ihr Verhalten war auffällig. Ich habe sie nie lachen sehen. Entweder saß sie stumm und freudlos mit in der Runde oder sie schimpfte, offenbar ließen sich immer Gründe finden. Als ihre dementielle Veränderung in ihren letzten Lebensjahren immer offensichtlicher wurde, wich meine Abneigung dem Mitleid, aus dem aber keine Zuneigung entstand. Ich bin mir sicher, sie litt an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Insofern birgt die wiederholte Beteuerung meines Vaters „Sie war vor dem Krieg ganz anders gewesen.“, einen wahren Kern.

Maria Löser

Heute – über vier Jahrzehnte später – gibt es therapeutische Möglichkeiten, den Leiderfahrungen die Macht über das gesamte Leben zu nehmen. Heute wird auch zum Glück ehrlicher und offener umgegangen mit traumatisierenden Erlebnissen. Nein – wir sind meiner Großmutter väterlicherseits nicht gerecht geworden. Wir sahen in ihr nur einen liebesunfähigen und verhaltensauffälligen Menschen.


Ein unsäglicher Start ins Leben


Ihr Unglück beginnt schon mit ihrer Entstehung. Ihre Geburt ist unehelich. Sie ist das Ergebnis eines Faschingsballs, der für ihre damals 16- oder 17jährige Mutter mit einem – wahrscheinlich unwesentlich älteren Jüngling – mit einem Liebesakt endete.

Diese Schwangerschaft war eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Katastrophe. Meine Urgroßmutter war das einzige Kind. Die Lebensgrundlage der Familie war ein Bauernhof. Da nach damaliger Auffassung eine Tochter keinen Hof bewirtschaften konnte, musste sie so heiraten, dass sie „versorgt“ war, oder es musste sich ein Mann finden, der in den Hof der Schwiegereltern einheiratete. Eine ledige Mutter mit Kind war keine gute Partie. Nach damaliger Sexualmoral sollte eine Frau vor der Ehe „unberührt“, also als Jungfrau, sein. Wenn sie aber ein Kind hatte, hatte sie nicht nur gegen den Moralkodex verstoßen, sondern stellte einen Ehemann vor die Aufgabe, das „mitgebrachte“ Kind mit durchzufüttern. Blieb die Tochter unverheiratet, blieben sie und ihr Kind der Versorgungsfall der Eltern, von der „Schande“ mal abgesehen. Der schwangere Teenager wurde zu Hause versteckt, teils zur Strafe, teils, um gehässigen Bemerkungen zu entgehen. Nachdem das Kind das Licht der Welt erblickte, erging es ihm wie seiner jungen Mutter – schlimmer noch: Es wurde nirgends offiziell eingetragen – nicht ins Familienstammbuch, nicht ins Geburtsregister der Kommunalgemeinde, nicht ins Taufregister der Kirchengemeinde.


Aber das „Verstecken“ löste ja nicht das Problem der fehlenden Erbfolge, auch nicht das der ungesicherten Altersversorgung der Eltern, schließlich war das Enkelkind wieder nur ein Mädchen. Die Tochter konnte zwar auf dem Hof als Magd arbeiten, aber letztlich waren die beiden eine Last, die die Eltern nicht loswurden.


Vaterschaft als Deal


Eines Sommers aber fand sich ein Saisonarbeiter, der sich auf fremder Scholle verdingen musste, weil seine Halbgeschwister aus der zweiten Ehe seines Vaters ihn vom elterlichen Hof gejagt hatten. Wilhelm Wunsch, so sein Name, war ohne eigenes Verschulden um sein Erbe und um seinen Sozialstatus gebracht worden. Daher war er einem Deal seines Arbeitgebers nicht abgeneigt. Meine Urgroßeltern boten ihm ihren Hof an. Als Gegenleistung musste er die Vaterschaft der kleinen Maria anerkennen, die Familienehre durch Heirat der Tochter wiederherstellen und zeitlebens für Schwiegereltern, Ehefrau und Stieftochter sorgen. Wilhelm war erfahren in landwirtschaftlichen Dingen und erfüllte alle Bedingungen. Aber auch meine Oma blieb ein Einzelkind – möglicherweise ein Hinweis darauf, wie es um das Liebesleben zwischen den Eheleuten bestellt war. Statt zur Schule zu gehen, hatte Maria schon mit sechs Jahren mitzuarbeiten. Sie musste die Erntearbeiter und -arbeiterinnen mit Essen versorgen. Sie sollte weder Mühe noch Kosten verursachen.


Maria, die Lehrersgattin


Lesen und schreiben lernte Maria erst als Erwachsene mit ihren eigenen Kindern. Schließlich hatte sie einen Lehrer geheiratet und war es ihrer neuen gesellschaftlichen Stellung schuldig, über derartige Kulturtechniken zu verfügen. Überhaupt achtete sie als Ehefrau und Mutter sehr darauf, sich von den anderen Frauen – also den Bäuerinnen und Landarbeiterinnen – abzugrenzen. In der Stadt, also in Guben, kaufte sie für sich Korsagen und die dazugehörigen „Fischgräten“, Seidenstrümpfe und Unterhosen. Ihren Kindern kaufte sie lange Wollstrümpfe. (Unser Vater, ihr Sohn, erzählte uns ungezählte Male, wie sehr er die Wollstrümpfe gehasst hatte, weil sie fürchterlich kratzten.) Von den Kindern aus dem Dorf hielt sie die ihrigen fern. Die Sommer- und die Herbstferien verbrachte die Lehrersfamilie auf dem Hof ihrer Eltern, um bei der Ernte mitzuhelfen und um sich dort mit Lebensmittelvorräten zu versorgen (In den Sommerferien wurde das Getreide geerntet, in den Herbstferien die Kartoffeln – sie wurden daher auch Kartoffelferien genannt.) Diese Versorgungsleistungen galten als normal – eine Art Mitgift. Sie waren auch der Grund, warum mein Großvater gezielt nach einer Bauerstochter als Ehefrau Ausschau gehalten hatte.


Wilhelm Wunsch – Hoferbe, Flüchtling, Fremdling


Von seinen Urgroßeltern hat mein Vater nie erzählt. Wann sie gestorben sind, weiß ich nicht. Seine Oma, also Marias Mutter, hat er gemocht. Sie starb im Laufe des Krieges – an einer Grippe hieß es. Der elterliche Hof, den Maria erben sollte, lag auf dem Gebiet, das Polen nach dem Krieg zugeschlagen wurde. Den Ortsnamen herauszufinden, ist mir leider nicht gelungen. Wilhelm Wunsch wurde vom Hof seiner Schwiegereltern vertrieben. Vorher hat er mit ansehen müssen, wie erst die Rotarmisten und dann die Polen Bewohnerinnen und Bewohner seines Dorfes ermordeten.

Entlang der Oder-Neiße-Linie (Görlitzer Neiße) haben wir es insgesamt mit drei Fluchtwellen zu tun: Anfang 1945 flohen die Menschen vor der Roten Armee, dann kam das eroberte Gebiet östlich der Oder-Neiße-Linie unter sowjetische Verwaltung. Viele, die nach der ersten Flucht wieder zurückgekehrt oder geblieben waren, verließen die Heimat, weil sie um ihr Leben fürchteten. Mord und Totschlag, Vergewaltigung und Verschleppung, Vandalismus und willkürliche Beschlagnahmung der Häuser durch eine kriegsverrohte, traumatisierte, enthemmte und aufgehetzte Soldateska machten das Leben, das dort einst geführt worden war, unmöglich. Die endgültige Aussiedlung war dann Folge der Vereinbarungen der Jalta-Konferenz (Februar 1945) und der Potsdamer Konferenz (Juni1945) der vier Siegermächte über die Aufteilung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937. Auch bei der dritten Fluchtwelle, von den Siegermächten euphemistisch „Umsiedlung“ genannt, kam es zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Nun war es Marias Aufgabe, für Wilhelm Wunsch zu sorgen. Er lebte mit ihr und Gisela zusammen. Sie musste, auch wenn sie dies nicht wollte, ihn 1950 in den Westen mitnehmen. Ihr Ehemann und ihr Sohn waren per Gesetz verpflichtet, für Wohnung und Lebensunterhalt zu sorgen.


Nach dem Krieg war Wilhelm Wunsch geistig umnachtet. Immer wenn die Rede auf ihn kam, wurde ich den Verdacht nicht los, dass zwischen seinem Geisteszustand und seinen schrecklichen Erlebnissen ein Zusammenhang bestand. Zweimal durch Unrecht um Eigentum, Status und Ehre gebracht, hatte ihm wohl den Verstand gekostet. Meinen älteren Bruder, seinen Urenkel, der im März 1957 geboren wurde, nahm er nicht mehr wahr. Er starb im Sommer 1957 und wurde auf dem Repelner Friedhof in fremder Erde, weit weg von seiner Heimat, beerdigt.


In meiner Kindheit wurde wenig über ihn gesprochen, meist immer dieselbe Geschichte: Kam die Familie zusammen, gab man dem geistig hinfälligen alten Mann Schnaps zu trinken. Unter dem Einfluss dieses hochprozentigen Getränkes erhob er sich feierlich und schmetterte lauthals das Kirchenlied „Großer Gott, wir loben dich“. Wollte die Familie sich amüsieren, dann brauchte nur jemand zu Glas und Flasche zu greifen. Diese Respektlosigkeit einem hilflosen alten Menschen gegenüber und das Gotteslästerliche rufen während meines Nacherzählens Empörung hervor. Als Kind fand ich die Geschichte aber normal, ja lustig – wie die anderen auch. Wahrscheinlich war die Ursache, Wilhelm Wunsch zur Witzfigur zu machen, fehlende Bindung und fehlende Eltern-Kind-Liebe. Die Vaterschaft war schließlich ein Deal gewesen und kein Liebesakt.


Der Ariernachweis bringt es an den Tag


Als ich als Teenager meinen Eltern eines Tages beim Aufräumen half, fiel mir der Arierpass meiner väterlichen Familie zufällig in die Hände. Als ich ihn meinem Vater zeigte, straffte er sich, als müsse er beim Militär Haltung annehmen und verkündete im schneidigen Kasernenhofton: „Alles sauber, nur Deutsche in der Familie, keine Polacken, die gab es ja auch in unserer Heimat“. Ich begann diesen amtlichen Nachweis unserer „sauberen“ Herkunft genau zu studieren. Bei einer Stelle stockte und stutzte ich: „Vater: Wilhelm Wunsch – an Eides Statt erklärt“. Bei genauerer Betrachtung entdeckte ich eine weitere Unebenheit: Die Ehe meiner Urgroßeltern wurde erst zwei Jahre nach Marias Geburt geschlossen. Heiratsdatum und das der Erklärung der Vaterschaft waren identisch. Mir ist es entfallen, was mein Vater zur Erklärung sagte. Er schimpfte und polterte, denn das war mal wieder typisch, dass ausgerechnet ich so etwas fragen würde, immer wäre ich auf der Suche nach dem Schlechten, obwohl ich doch aus einer ehrenwerten und achtbaren Familie käme. Wahrscheinlich hätten mich in der Schule diese „linken Frigitten“ – gemeint waren Lehrerinnen mit anscheinend linker Gesinnung - infiziert. Die Unterstellung, ich hätte nur aus böser Absicht gefragt, war unzutreffend. Aber zu Anfang der 70ger Jahre interessierten mich die Ereignisse der NS-Zeit, denn wir lasen im Deutschunterricht das „Tagebuch der Anne Frank.“ Stapelweise lieh ich mir entsprechende Bücher und Bildbände aus der Stadtbibliothek. Die Szene, die mein Vater mir gemacht hatte, war einschüchternd. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass er über mein „abseitiges“ Interesse an NS-Zeit und Holocaust in Rage geriet. Ich hatte Angst vor ihm und ärgerte mich zugleich über mich selbst: Warum war ich nicht so wie meine beiden Brüder, die stellten nicht so komische Fragen wie ich, warum konnte ich meinen Rand nicht halten?


Die geordnete Welt von Maria L. – 1920-1941


Zurück zu Maria Löser, geb. Wunsch! Maria war ihrem Mann und ihren Kindern der Inbegriff einer treusorgenden Mutter und Hausfrau. Früh gegen 4 Uhr morgens stand sie auf, heizte winters die Küche und das Klassenzimmer. Sie kochte ihren Kindern einen sättigenden und wärmenden Haferbrei, weckte sie, ließ sie frühstücken und half ihnen dabei, sich für den Schulweg zu rüsten. Die Familie war ihre Welt – und die brach 1941 zusammen. Ehemann und Sohn wurden eingezogen. Sie und ihre Tochter waren auf sich gestellt. Wie bedrohlich dies für die beiden war, zeigte sich gegen Ende des Krieges, als die Rote Armee die Grenzen des Deutschen Reiches überschritt und im Zuge der Kriegswirren bürgerliche Ordnung und bürgerlicher Anstand sich auflösten. Ende 1944 verließen Maria und ihre Tochter Gisela die Dienstwohnung und zogen zu den Eltern auf den Bauernhof. Dort war die Nahrungsbeschaffung einfacher. Aber schon wenige Monate später lebten sie wieder im Coschener Schulhaus. Maria musste ihren Vater bei sich aufnehmen, als das deutsche Staatsgebiet östlich der Oder-Neiße-Linie polnisch wurde und der Hof polnische Besitzer bekam – auch Vertriebene, aus dem Osten Polens. Die Dorfschule gab es nie mehr. Schon vor der Gründung der DDR wurden Schulen zusammengelegt. Ein Grund war sicherlich, auf diese Weise Unterrichtsinhalte und die Lehrer/innen seitens der stattlichen Schulaufsicht besser kontrollieren und beeinflussen zu können, damit Sozialismus und Bildung übereinstimmten.

Gisela wurde in der DDR Junglehrerin und kam erst 1952 in die Bundesrepublik. Maria hielt hartnäckig an der Vorstellung fest, dass eines Tages ihre Familie wieder vereint im Lehrerhaus wohnen und Ehemann Richard seinen Dienst wieder aufnehmen würde - entgegen den politischen Fakten, die die vier Siegermächte auf Jalta und in Potsdam geschaffen hatten. Beide Frauen warteten auf Nachricht und Rückkehr der Männer. Seit Anfang 1944 war der Kontakt zu Heinz und Richard abgebrochen. Bis dahin hatte Maria Briefe, haltbare Lebensmittel und selbstgebackenen Kastenkuchen schicken können.

Bekamen Vater und Sohn Fronturlaub, wurde ein Termin beim Fotografen gemacht, denn es hätte jedes Mal das letzte Mal sein können, dass die Familie vollständig beisammen war. Mein Großvater hatte zwei schwarze Anzüge. Für sich und ihre Tochter ließ Maria sie zu Damenkostümen umarbeiten. Die beiden wollten Trauer tragen können im Falle einer Todesnachricht.


Nie mehr, wie es mal war – wegen Sohn Heinz


Es dauerte Jahre, bis die Familie sich gegenseitig ausfindig gemacht hatte. Nach der Entlassung aus englischer Gefangenschaft verschlug es meinen Vater an den Niederrhein. Er war Pferdeknecht auf einem großen Gehöft. Aber sein Ziel war der Bergbau. Angesichts des verlorenen Krieges und der monströsen Nazi-Verbrechen gingen die meisten Deutschen davon aus, sie würden von den Siegermächten genauso versklavt werden wie einst die Völker, die sie überfallen hatten. Aber Kohle und Stahl würden Schlüsselindustrien bleiben. Heinz brachte es zum „Bergbaubeflissenen“. War er nicht unter Tage, dann ging er zur Schule, um sein Abitur nachzumachen, denn er hatte das Humanistische Gymnasium mit dem Notabitur verlassen, mit dem er schlechtere Chancen auf einen Studienplatz hatte.

Zwei wichtige Entscheidungen hatte er inzwischen getroffen: Er wollte einen akademischen Grad und er wollte auf gar keinen Fall zurück in seine Heimat, die jetzt entweder polnisch war oder Sowjetische Besatzungszone und das vertrat er auch knallhart seiner Familie gegenüber. „Wenn ihr mich wiedersehen wollt, dann nur hier (sic. im Westen)“. Sein Vater war in der Holsteinischen Schweiz aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Da sie ebenfalls zur englischen Besatzungszone gehörte, war es verhältnismäßig einfach, für Vater und Sohn zusammen zu kommen. Mein Großvater zog an den Niederrhein zu seinem Sohn, denn der verdiente ja Geld im Bergbau.

Maria hatte nicht vorgehabt, in den Westen zu ziehen, die Tochter Gisela auch nicht. In den Kriegswirren hatte sie die Schule etwa zwei Jahre vor dem Abitur abbrechen müssen. Aber sie konnte sich in der frisch gegründeten DDR zur Junglehrerin ausbilden lassen – auch ohne Abi. Der kommunistische Staat ersetzte Lehrkräfte der 30ger und 40ger Jahre durch junge Leute. Sie wurden schnell ausgebildet und sofort eingestellt – ein attraktives Angebot, auf kurzem Wege zu Arbeit, Geld und soziale Anerkennung zu kommen. Für Gisela war das geforderte politische Bekenntnis kein Problem. Sie kannte den Lehrerberuf durch ihren Vater und wollte mit ihrer Mutter zusammen sein. Die Jahre ohne die Männer und gemeinsam Erlittenes hatten die Beziehung sehr eng gemacht.


(K)ein Neuanfang für Maria, ein letzter Besuch in der Heimat, ein gnädiges Ende


Die Eheleute Richard und waren sich fremd geworden. Maria versah zwar pflichtbewusst ihre Pflichten im Haushalt, aber sie wirkte freudlos und sie hielt ihren Mann auf Abstand. Mein Großvater vertraute seinem Sohn an, dass die Mutter sich ihm sexuell entzog und verweigerte. Auch ich habe als Kind nie eine Geste der Zuneigung zwischen meinen Großeltern gesehen. Die Gründe für diese Veränderung erfuhren wir erst viel später, als Verwandte und ehemalige Bekannte nach der Wende meine Eltern in Duisburg besuchten. Sie sprachen offen aus, was in den „Fluchtgeschichten“ immer unterschwellig mitschwang, aber unausgesprochen blieb. Beim Familienkaffee wurde. nahezu gebetsmühlenartig, immer wieder aufs Anschaulichste berichtet, wie Maria und Gisela sich vor den russischen Soldaten versteckten, um nicht vergewaltigt zu werden. In ihren Verstecken hörten sie die Schreie der anderen Frauen und das Gegröle der oftmals betrunkenen Soldaten. Einmal ist Gisela verschleppt worden und kam erst Stunden später wieder. Tante Gisela konnte nicht aufhören zu kichern, wenn sie diese Begebenheit zum Besten gab. Nein – angetan hätten ihr die Russen nichts, aber sie gezwungen, Wodka zu trinken. Dass sie nach dieser „Mitnahme“ noch Jungfrau war, kann man ja glauben, muss man aber nicht. Die Kaffeetischgeschichten hatten hauptsächlich zwei Schwerpunkte: Maria war es gelungen, ihren Nachbarn etliche Dinge zu entreißen, die während ihrer Monate auf dem elterlichen Hof aus der Dienstwohnung entwendet worden waren und sie und ihre Tochter konnten sich gut genug verstecken, so dass sie nicht vergewaltigt worden waren.

In Coschen gab es nicht nur plündernde und stehlende Nachbarn, sondern auch der Lehrerfamilie wohlgesonnene Menschen, also gute Bekannte meiner Großeltern. In dem 70ger Jahren, als meine Oma schon Witwe war und die Ostverträge es möglich machten, besuchte Maria ihre Heimat, zusammen mit ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn Werner. Zwei Wochen vor ihrem Tod am 31. August 1980 war sie noch dort gewesen. Am Tag der Abreise stürzte sie und brach sich den Oberschenkelhals. Ärztlich wurde sie so weit versorgt, dass sie von Gisela und ihrem Mann mit dem Auto zurückgefahren werden konnte. Sie kam sofort in Moers ins Krankenhaus. Ihr wurde eine neue Hüfte eingesetzt. Wenige Tage nach der OP erlitt sie einen schweren Herzinfarkt. Mit meinen Eltern, meiner Tante und meinem Onkel war ich dabei, als sie starb. Tage vorher hatte sie sich verändert: Sogar ihrer Schwiegertochter sagte sie, wie lieb sie sie hätte. Einer ihrer letzten Sätze war: „Wird schon werden, mit der Mutter Berden.“, eine mir bis dahin unbekannte Redensart, die besagte, dass sie die Sorge um ihr Leben loslassen und in andere Hände legen konnte. So hatte ihr Leben, das oft ohne Gnade und Liebe gelebt worden war, wenigstens ein gnädiges Ende gefunden. Ich war, weil ich Semesterferien hatte, meist mit meinen Eltern mitgefahren ins Krankenhaus. Ich ahnte ihren Tod und hätte gern auf meine Weise Abschied genommen, um meine schlechten Erinnerungen umschreiben zu können. Ob meine Erwartung unrealistisch war oder ob es an den Mitbesuchern lag – außer Begrüßung und Abschied lief nichts zwischen uns. Ich blieb Zaungast und Zuschauerin.


Das Bild entstand Anfang der 60er Jahre. Rechts stehen meine Großeltern Maria und Richard, davor mein Bruder und links werde ich von meiner Mutter getragen.

Die Kaffeetischgeschichten und was wirklich geschehen ist und vieles erklärt


Sommer 1990, also zehn Jahre nach Marias Tod, bekamen meine Eltern Besuch „aus der Heimat“. Mein Vater und meine Tante freuten sich, denn „drüben“ lagen ja ihre Wurzeln. Erinnerungen wurden ausgetauscht, von denen erzählt, die gestorben waren. Natürlich waren Maria und Gisela Thema. Als mein Vater mit dem Besuch aus der Heimat mal allein war, wurde er gefragt, wie denn Mutter und Schwester seelisch überstanden hätten, was ihnen angetan worden war. Mein Vater war irritiert und entgegnete, die beiden wären, sieht man von der Altersverwirrung seiner Mutter mal ab, völlig „normal“ gewesen. Die Kaffeetischgeschichten erfuhren eine schmerzhafte Korrektur. Gisela und Maria sind von Rotarmisten vergewaltigt worden – und zwar mehrmals. Manchmal konnte Maria für ihre Tochter Verschonung erwirken oder die Täter von ihrer Tochter ablenken, indem sie sich zur Verfügung stellte. Das gelang leider nicht immer.

Zusammen mit meiner pastoralen Berufserfahrung und der Ahnung, dass Entscheidendes an der Kaffeetafel ausgelassen worden war, konnte ich das auffällige und für mich schwer erträgliche Verhalten meiner Oma mir gegenüber einordnen.


Marias Trauma und ihre Enkelin


Geriet ich in das Visier meiner Großmutter, – meist bei der Begrüßung - musste ich folgendes Ritual über mich ergehen lassen: Ich kam früh in die Pubertät – meine Tage bekam ich mit zehn und mit zwölf hatte ich die Körperform einer erwachsenen Frau. Statt einer Begrüßung rief meine Großmutter, kaum, dass ich aus dem Auto ausgestiegen war, aus: „Wie sieht die denn aus, die schminkt sich ja schon und wie die schon guckt. Das wird mal eine Hure!“. Wer das zu unseren Töchtern gesagt hätte, hätte uns nie mehr wiedergesehen. Aber meine Mutter befeuchtete ihren Zeigefinger mit Speichel, fuhr mit dem nassen Finger über meine Augenbrauen – die sind bis heute von Natur aus dicht und dunkel – und zeigte ihn ihrer Schwiegermutter mit den Worten: „Hier ist der Beweis – keine Schminke!“. Wir gingen ins Haus. Mir war schlecht vor Scham und Ekel. Ich tat so, als wäre nichts gewesen, so auch meine Eltern und Brüder. Einerseits war ich völlig ahnungslos und unwissend, die menschliche Sexualität und Fortpflanzung betreffend, andererseits wusste ich als Zehn- bis Zwölfjährige, dass aus mir ein abgrundtief schlechter Mensch werden würde – eine Hure eben, obwohl ich gar nicht wusste, was das war.


Es gibt für mich keinen einzigen Grund, dieses krasse Fehlverhalten aller beteiligten Erwachsenen zu entschuldigen. Ich versuche aber, es zu erklären. Kennzeichnung einer Traumatisierung ist, dass Traumatisierte stecken bleiben im Erleben des oder der traumatisierenden Ereignisse – vergleichbar mit einem Film, bei man die Stopp-Taste der Fernbedienung gedrückt hat. Marias Lebensfilm war stehen geblieben bei den erlittenen Vergewaltigungen. Für sie war es normal, ja, es war ein weibliches Geschlechtsmerkmal, dass Männer über Frauen herfielen. Die Überlebensstrategie einer Frau war, das Beste aus dieser unumstößlichen Tatsache zu machen – also wenigstens ein Geschäft, Sex gegen Geld. Maria hat sich und alle Frauen der Welt für ihre Hilflosigkeit, gehasst. Sie, und alle Frauen mit ihr, waren willenlos ausgeliefert, ohne Wert und Würde. Das wollte sie mir als Erfahrungsschatz auf meinem Lebensweg mitgeben. Je eher ich wusste, dass ich als weiblicher Mensch zur Hure bestimmt war, desto besser.

Und warum schwiegen die anderen Erwachsenen – mein Großvater, mein Vater, meine Mutter, meine Tante? Die beiden Männer hatten tief verinnerlicht, was heute als „toxische Männlichkeit“ bezeichnet wird. Alltägliche Gewalt, Erlebnisse extremer Gewalt im Krieg, gesellschaftliche Privilegien und Erwartungen, Unvermögen und fehlende Notwendigkeit zur Selbstreflexion und fehlendes Unrechtsbewusstsein hatten sie so werden lassen. Aus ihrer Sicht wäre es absurd gewesen, ein kleines Mädchen vor dieser Übergriffigkeit in Schutz zu nehmen. Und die beiden Frauen? Meine Tante hatte alles, was nur in die Nähe eines eigenen Standpunktes oder einer reflektierten Lebenserfahrung kam, entweder abgespalten oder so tief in ihrem Innersten verborgen, dass es nie vorkam. Mehr als Oberflächlichkeit und Aussagelosigkeit habe ich beim besten Willen bei ihr nie wahrnehmen können. So passte sie eben überall hin und eckte nie an – auch eine Überlebensstrategie. Meine Mutter entschied sich für die Rolle der Komplizin. Sie übernahm kritiklos jede Rollenzuweisung und wurde zeitlebens dafür von ihrem Mann mit Konsum belohnt. Sie spielte das schaurige Spiel mit nichtexistierender Schminke, Spucke und der bedenklichen Lebensperspektive der eigenen Tochter mit. Damit war sie raus aus der Schusslinie. Dort stand ja ihre Tochter.


Marias dementielle Veränderung


Wer dachte, wir führen nach Richards Tod seltener nach Meerfeld, der irrt gewaltig. Ein guter Sohn lässt doch seine verwitwete Mutti nicht allein. Eigentlich blieb alles unverändert – bis etwa drei Jahre nach Richards Tod Gisela und Werner in das elterliche Reihenhaus einzogen. Dann wurden unsere Besuche etwas seltener.

War Maria mal allein im Haus, rief sie unentwegt bei uns an oder lief ziellos in der Gegend herum. Dazu kam Bestehlungswahn. Immer häufiger vermisste sie Dinge, die ihr gehörten oder ihre Tochter und fragte die Nachbarschaft, ob jemand sie gesehen hätte. Etwa ein Dreivierteljahr vor ihrem Tod war sie mit Gisela und Werner bei uns zu Besuch. Es muss der Geburtstag meiner Mutter gewesen sein, denn es waren auch Freunde und Bekannte meiner Eltern bei uns. Maria klagte ihr Leid, ihre Tochter sei vor einigen Wochen mit mehreren Männern einfach mitgegangen und seitdem einfach verschwunden. Dabei saß ihre vermisste Gisela neben ihr! Wurden Irrtümer wie dieser korrigiert, dann wurde sie ganz still: „Kinder, ich muss euch was sagen; ich bin nicht mehr normal. Giselchen ist doch gar nicht fort, die sitzt doch hier.“ Manchmal, wenn einem Feiertag ein Brückentag folgte oder an Ostern oder Pfingsten und wenn an diesen Tagen Gisela und Werner einen Kurzurlaub machten, blieb sie über Nacht bei uns. Die Nächte dieses Besuches waren ein wahrer Albtraum für alle – Maria eingeschlossen. Sie weckte mehrmals in der Nacht völlig außer sich und panisch die ganze Familie. Sie müsse packen, die Russen kommen… Die Russen sind schon da und haben ihren warmen Pelzmantel gestohlen. Burkhard, ihr ältestes Enkelkind, lotste sie wieder ins Bett. Er ließ überall im Haus Licht brennen und die Türen auf. Den vermeintlich gestohlenen Pelzmantel legte er ihr aufs Bett, damit sie auf ihn aufpassen und er sie wärmen konnte.


Spätestens von da an war klar: Ihr Verhalten hatte nichts mit ihrer charakterlichen Disposition zu tun, sondern mit den Kriegs- und Fluchterlebnissen. Eine gerontopsychiatrische Behandlung gab es nicht. Dazu kam der gesellschaftliche Konsens des Beschweigens von Gräueltaten, vor allem, wenn es um sexualisierte Gewalt gegen Frauen ging. Über Sexualität zu sprechen war tabu. Außerdem war sie „Männersache“. Ein Mann hatte ein Recht auf Geschlechtsverkehr und dieses Recht „holt“ er sich bei den Frauen, idealerweise bei seiner Ehefrau. Der gewaltsam erzwungene Beischlaf durch Besatzer schädigte also den Ehemann. Eigentlich wäre es die Pflicht der Ehefrau gewesen, diesen Schaden ihres Gatten zu vermeiden. Maria hatte in diesem Sinne versagt – verständlich, dass sie sich ihrem Mann nicht offenbarte. Sie hatte kein Mitleid, keinen Trost zu erwarten, von Wiedergutmachung ganz zu schweigen. Sie wurde nie als Opfer anerkannt. Dasselbe galt auch für ihre Tochter Gisela.


Schlussworte


Wie sehr Lebensumstände und historische Ereignisse Herzen und Hirne vergiften können und das meiste, was Menschen an guten Anlagen in sich tragen, zerstören kann, ist mir beim Aufschreiben deutlich geworden. Einerseits tut es mir von Herzen leid, dass gute und herzliche Beziehungen bei Richard und Maria nicht möglich waren. Andererseits hat das Niederschreiben mich davor bewahrt, einfach nur den Stab über die Eltern meines Vaters zu brechen. Hatten die beiden eine Wahl, „bessere“ Menschen zu sein? Waren sie aus freien Stücken so geworden, wie sie nun einmal waren? Ich weiß es nicht und rechne auch nicht mehr ernsthaft mit einer klaren Antwort. Jedenfalls hätte ich mir gewünscht, dass Richard und Maria das Leben im Westen als einen guten Neuanfang wertgeschätzt und für sich und zum Wohle anderer genutzt hätten. Wir drei Enkelkinder hätten sie als Opa und Oma liebhaben können. Sie hätten sich ihres Lebens freuen können. Schließlich lebten sie frei von jeder Bedrohung in Wohlstand. Ihre Kinder waren beruflich erfolgreich. Ihnen sind drei gesunde Enkelkinder geschenkt worden. All dies blieb ungenutzt und konnte Erlebtes und Erlittenes nicht heilen. Das ist bitterschade!



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