1. Meine Stimme
- Nicola
- 16. Okt. 2021
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 11. Jan. 2022
Teil 1 von "MSA-C (1) - individuell"
Rückblickend bin ich mir sicher, dass diese Erkrankung schon vor sechs Jahren begonnen hat. Aber die Vorboten waren entweder dezent oder ließen sich als Stresssymptome erklären. Drei markante Veränderungen werde ich beschreiben. Es gehört aber zum Konzept meines Blogs, mein Leben, meine Erkrankung, Ereignisse sowie gesellschaftliche Rahmenbedingungen und ihre Veränderungen in einen untrennbaren Zusammenhang zu stellen.

Frauenstimme und Männerberuf
Für den Beruf Pfarrerin ist die Stimme das A und O. Meine war immer angemessen laut und deutlich und eine, der man mühelos zuhören konnte. Als Frau sorgte ich damit in meinem Männerberuf für Irritation, denn das Schönheitsideal einer Frauenstimme ist „leise und eindringlich“. Ich war aber „laut und durchdringend“. Leise und eindringlich klingt für mich wie ein Flehen um wenigstens ein bisschen Gehör.
So wollte ich nie „rüberkommen“. Habe ich etwas Wichtiges – etwa in Predigt und Unterricht – mitzuteilen, dann werde ich es nicht durch die Art meines Sprechens in Zweifel ziehen.
Mich hat noch nie ein älterer Mensch gebeten, bitte lauter zu sprechen. Eine defekte Mikrofonanlage war nie eine Herausforderung für mich – ja, manchmal wurde das Mikrofon von mir einfach ignoriert, weil es Mikrofone gibt, die die Stimme unangenehm für Sprechende und Hörende verfremdet.
Sprechstimme und Singstimme
Das Singen in der Kantorei (2) der Kreuzkirche – eine der besten in Bonn und Umgebung – war die beste Möglichkeit, die Fähigkeit des lauten und deutlichen Sprechens zu perfektionieren. Das alles änderte sich schleichend, wurde aber seit 2015 immer offenkundiger. Das Zusammenspiel von Atmung und Stimme funktionierte nicht immer reibungslos. Im Chor sang ich im Sopran – und ich hatte eine recht hohe Sopranstimme – aber nicht nur die hohen Töne wurden immer seltener erreicht, sondern auch das Erlernen und Nachsingen von Melodiefolgen gelang nur noch mit Mühe.
Ich begann mich zu „verstecken“, war froh, wenn mich niemand hören konnte. Bei jeder Chorprobe war die Angst mit dabei, entging doch unserer Kantorin nicht die allerkleinste Unsauberkeit. Nachdem ich unter all dem Stress im November 2015 einen völligen Blackout bei der“ „Missa solemnis“ (3) von Beethoven hatte und die Aufführung als Statistin mitmachte, nahm ich sogar Gesangsunterricht. Der Gesanglehrer war taktvoll genug, mir seine Verwunderung darüber zu verbergen, dass ich es geschafft hatte, derart talentfrei in einem so renommierten Chor zu singen.
Meine Zeit im Chor war rum, das war mir klar. Und ich wollte um nichts in der Welt von unserer ehrgeizigen Chorleiterin freundlich und unmissverständlich herauskomplimentiert werden. Noch merkte es niemand, wie sich meine Stimme zunehmend meiner Kontrolle entzog – dachte ich jedenfalls. Als einzig plausible Erklärung – den Chor hatten zeitgleich mit mir einige Sängerinnen meines Alters verlassen – gab es für mich mein Alter und die damit einhergehende hormonelle Veränderung durch die Wechseljahre. Schließlich sind unsere Östrogene maßgeblich an der Stimmmodulation beteiligt.
Stimme und Dienstunfähigkeit
Eines Tages fragte mich eine Kollegin – wir hatten eine herzliche Beziehung zueinander – ob ich Medikamente nehmen würde, meine Stimme würde manchmal verwaschen klingen. Ich verneinte irritiert, dabei hatte sie nur etwas beobachtet, das mir auch schon aufgefallen war: Insbesondere Müdigkeit nach einem arbeitsreichen Tag machten eine saubere Artikulation schwer.
Meine Sprechstörung verstärkte sich und gab letztendlich den Ausschlag für das Ausscheiden aus dem Schuldienst als Berufsschulpfarrerin (4). Ende September 2017 gab ich meinen letzten Unterricht und Sommer 2018 kam die Pensionierung (5) aus gesundheitlichen Gründen.
Der schleichende Verlust von Stimme und Sprechen
Seitdem bin ich in logopädischer (6) Behandlung. Die Bitten, Gesagtes noch einmal zu wiederholen, häufen sich. Ich verschlucke mich oft beim Essen, habe mit Speichelfluss, Aufstoßen und Hustenanfällen zu tun. Die Sätze, die ich ohne Unterbrechung zu Ende sprechen kann, werden weniger. Es ist so, als wenn mir die Symptome meiner Erkrankung ständig ins Wort fallen.

Das Foto, mit dem dieser erste Teil schließt, ist am 18. Dezember 2021 entstanden. ich bin mit unserer jüngeren Tochter in der Kreuzkirche zum Weihnachtsoratorium. Mein Mann singt mit. Da unsere Kantorei das Weihnachtsoratorium zweimal pro Adventszeit aufführt, habe ich es insgesamt 24 mal mitgesungen - von 2005-2016. Ein Jahr später hätte ich nach der zweiten Aufführung auf unserer traditionellen Chorfete als Kantorei-Mitglied verabschiedet werden sollen. Stattdessen lag ich im Krankenhaus, um den Schwindelattacken und der Sprechstörung diagnostisch auf die Spur zu kommen.
Inzwischen kann ich überhaupt nicht mehr singen, nur noch brabbeln.
Im nächsten Teil schreibe ich über den Verlauf meiner Leistungs- und Belastungsfähigkeit.
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Erläuterungen
Die nummerierten Wörter werden am Ende eines jeden Textes oder Textabschnittes erklärt. Mit einem Klick auf die Zahl hinter dem Wirt, gelangt man sofort zur Erklärung.
(1) MSA Multisystematrophie
Wer sich für detaillierte und verständliche Informationen über meine Erkrankung interessiert, dem sei folgender Artikel empfohlen: https://www.msdmanuals.com/de
Multisystematrophie (MSA) Von Phillip Low , MD, College of Medicine, Mayo Clinic, April 2020
(2) Kantorei
Chor einer Evangelischen Kirchengemeinde, Synonym: Kirchenchor
(3) Missa Solemnis
Der lateinische Begriff Missa solemnis bedeutet „feierliche Messe“. Die von Ludwig van Beethoven zwischen 1819 und 1823 komponierte Missa solemnis in D-Dur, op. 123, gilt als eine der bedeutendsten Leistungen des Komponisten überhaupt und zählt zu den berühmtesten Messen der abendländischen Kunstmusik.
Wikipedia
(4) Berufsschulpfarrer:in
Pfarrerinnen und Pfarrer sind nicht nur in Kirchengemeinden tätig, es gibt auch Pfarrstellen in der Klinikseelsorge und in Schulen zur Erteilung des Evangelischen Religionsunterrichtes. Diese Pfarrstellen werden "Funktionspfarrstellen genannt.
(5) Pensionierung
Pfarrerinnen und Pfarrer sind Kirchenbeamtinnen und -beamte. Ihre Einkünfte entsprechen den Besoldungsregelungen, die für Landesbeamtinnen und -beamte gelten. Ihr Dienstverhältnis besteht – genau wie im Staatsbeamtentum – lebenszeitlich. Es endet also nicht mit dem Beginn des Ruhestandes. Bei Beamten heißt das Ausscheiden aus dem aktiven Dienst nicht Verrentung, sondern Pensionierung.
(6) Logopädische Behandlung - Logopädie
Das Wort Logopädie heißt übersetzt „Sprecherziehung“.
Sie wird nötig bei Störungen des Sprechens, des Sprachverständnisses, der Sprech- und Sprachentwicklung, bei Stimmstörungen bei Funktionsstörungen und bei Schluckstörungen
praxistipps.focus.de
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